Unterwegs mit dem Kamera-Fokus aufs Wesentliche

Ich breche zeitig auf, möchte von meinem Zweitages-Ausflug so viel Zeit wie möglich nutzen. So gerate ich in die Rushhour. In Tokyo. Und dann muss ich auch noch in Shinjuku Station umsteigen, dem Bahnhof, der Weltrekorde mit seinen täglichen Pendlern erreicht. Die Sollbruchstelle meines Planes wird mir schlagartig bewusst, als mein erster Zug einfährt. Higashi-Kitazawa Station, in dessen Nähe das kleine Zimmer meines einmonatigen Tokyo-Aufenthalts liegt, mag leer sein, aber die im Zehnminutentakt fahrende Bahn ist proppenvoll – ganz so, wie man es aus den reißerischen Reportagen über Tokioer Bahnen kennt.

Missmutig, fast schon schockiert schauen mich die anderen Fahrgäste an, als ich mich noch dazu quetsche. Aber was soll ich machen? Die nächste Bahn wird ja nicht anders aussehen. Mein hinderlicher Rucksack, den ich auf die Gepäckablage zu schieben versuche, rutscht einer jungen Frau fast ins Gesicht. Sie kann nicht ausweichen, und ich versuche mich so gut es nur geht bei ihr zu entschuldigen. Kein guter Start. Während ich nur reise, haben diese Leute einen anstrengenden Arbeitstag vor und vielleicht bereits eine einstündige Pendelfahrt hinter sich. Wie ich es hasse, unangenehm aufzufallen. Ganz besonders in Japan, an dessen Gepflogenheiten ich mich immer rücksichtsvoll anzupassen bemühe mit dem Wissen, das ich über die hiesige Kultur und Mentalität bereits habe sammeln können.

Aber mein Unwohlsein verschwindet sofort als ich, in Tokyo Station angekommen, meine Platzreservierung in der Hand halte. Japan Railpass sei Dank, mit dem man fast jeden Zug der halbstaatlichen japanischen Bahngesellschaft JR ohne Aufpreis fahren kann, kosten mich die Bahnfahrten meines Ausfluges nicht einmal etwas. Und obwohl ich hier schon so viel unterwegs war, überrascht mich die Effizienz der japanischen Organisationsfähigkeit mal wieder aufs Neue. Es gibt Expressschalter, die auch halten, was sie versprechen. „Ich möchte jetzt nach Koriyama fahren, bitte,“ habe ich nur sagen müssen, als ich nach nicht erwähnenswert langer Wartezeit an der Reihe bin. Und „Ja, im Nichtraucher. Jeder Sitz ist in Ordnung.“ als ich gefragt werde, wo ich sitzen möchte. Dafür reicht mein ‚Unterwegs-Japanisch‘ problemlos. Meine Aussprache ist immerhin so gut, dass ich mittlerweile den Eindruck vermittele, ich könne diese Sprache sogar. Ich bin wieder eingegliedert ins System, steche nur noch so wenig heraus wie man es als Westler hier eben immer tut.

Die Reiselust kriecht in mir empor, während ich auf einen alten Shinkansen, dem ‚japanischen ICE‘, warte, der mich gen Norden bringen wird. Nachdem ich mich gerade noch in japanischem Rhythmus durch die Menschenmassen geschoben habe, heißt es ab nun durchatmen, das Tempo verlangsamen. Gelassenheit schöpfend atme ich die warme Luft ein, die noch Großstadtluft ist. Mein Blick gleitet über die vielen Schienen und Bahnsteige, ich mache ein Foto. Mit dem Handy. Für Instagram. Ist das schon Fotografie? Ein bisschen natürlich, aber es geht mir vorwiegend darum, etwas von diesem Moment hier zu teilen. Obwohl ich gerade eigentlich so glücklich bin, alleine unterwegs zu sein, und auch nur einen kleinen Ausschnitt äußere. Was wirklich in mir vorgeht, lasse ich nicht durchblicken. So sehr ich auch ‚zu etwas hinlaufe‘, so sehr ist es eigentlich eine Flucht. Ich liebe Tokyo, aber ich muss hier raus. Ich fliehe nicht vor der Stadt, ich fliehe vor mir selbst. Und gleichzeitig renne in mich hinein, öffne mich. Genau das, was ich gerade brauche. Und Reisen erlaubt mir das.

Außerdem bin ich gar nicht alleine. Ich habe meine Kamera mit mir, eine der besten Mitreisenden, die man sich vorstellen kann. Weil sie es mir ermöglicht, Impressionen festzuhalten und viel mehr noch, etwas Eigenes zu erschaffen. Etwas, das gleichzeitig von da draußen und von meinem eigenen Inneren kommt. Die Bilder werden, denke ich mir, nichts zeigen, das die Welt nicht schon irgendwie gesehen hätte, und doch konzentriere ich mich in der Fotografie noch mehr als früher auf die Dinge, die nicht oft eingefangen werden. Gerade an so ›tot fotografierten‹ Orten wie Japan, die so viele Menschen hauptsächlich in Reisekatalog-Ästhetik ablichten wollen, möchte ich das ›Andere‹ sehen, das oft das Alltägliche, Gewöhnliche und damit Übersehene ist. Dass ich das gerade hier so gerne tue, liegt auch daran, dass dieses Land für mich ein Zuhause geworden ist. Ich fühle mich hier schon lange nicht mehr als Tourist. Mittlerweile lebe ich hier, wenn ich herkomme, führe Alltag. Aber heute und morgen, ja, da bin ich zwar keine typische Touristin, aber ich bin Reisende. Und so richtiges Reisen – und mir wird erst während meines Trips bewusst werden, dass ich schon lange nicht mehr so intensiv gereist bin wie in diesen beiden Tagen – das führt nicht nur äußerlich irgendwohin, es führt immer auch in dich selbst.

Nun führt es mich bewusst zu einem ‚irgendwohin‘, das andere ausländische Reisende für gewöhnlich nicht besuchen. Zum einen kenne ich ja schon so viel und möchte Neues entdecken. Und außerdem wollte ich unbedingt nach Touhoku, dem nördlichen Teil der japanischen Hauptinsel Honshu. Möglicherweise dorthin, wo vor fünf Jahren der große Tsunami so viel verändert hat, dachte ich mir. In eine jener Regionen also, derer sich so viele Leute in meiner ‚ersten Heimat‘ Deutschland gar nicht mehr bewusst sind, weil unsere Medien dann nur noch von der Atomkatastrophe berichtet haben. Das Bedürfnis nach umfassenderem Verständnis, aber auch die Neugierde nach mehr Schönheit dieses Landes haben mich zu dieser Entscheidung inspiriert. Selbst sehen, aber dann auch zeigen können, wie viele Facetten Japan eigentlich besitzt. Letztendlich fahre ich nun jedoch, einer gar nicht als solche formulierten Empfehlung folgend, nicht an die Küste, sondern in die Berge – und bleibe meinem Vorhaben dabei dennoch treu. Mein Zielort Aizu ist ein Landkreis in der Präfektur Fukushima, die ja aus so Vielem mehr als nur dem Katastrophen-Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi besteht. Wer sich dessen nicht bewusst ist, dem möchte ich nahelegen, es sich zu merken. So viel Interessantes gibt es hier zu entdecken, darunter auch atemberaubend Schönes.

 

Unter mein Gefühl von sich lösender Anspannung mischt sich nun, wie erwartet, auch ein bedrückendes. Die Menschen im Shinkansen sind schon lange wieder in der Normalität angekommen. Für mich aber ist es eine neue Erfahrung. Das letzte Mal war ich vor dem großen Erdbeben nördlich von Tokyo. Gedanken schwirren durch meinen Kopf, manche setzen sich fest, andere purzeln weiter. Dabei dämmere ich weg, etwas Schlaf nachholen. Sobald ich aber in Koriyama den Regionalzug bestiegen habe, ist die Müdigkeit verflogen. Gebannt blicke ich aus dem Fenster, sauge die Ansicht in mich auf. Meine Augen sind zurzeit noch der einzige Fotoapparat und mein durstiger Geist belichtet nur Erinnerungen. Zu manifestierbaren Fotos werde ich noch nicht angespornt. Schöne kann man durch die Scheiben meist ohnehin nicht schießen. Aber dafür sprießen Worte.

„Man merkt, die Natur ist hier noch nicht so weit wie andernorts“, tippe ich in mein Smartphone. Papier habe ich diesmal keines dabei. „Trockenheit hält die Flora noch fest im Griff, durchbrochen von postkartenidyllischen Zierkirschen, die sich, von feinen Blütenblättern schwer, aufdrängen in ihrer Pracht. Die undurchdringliche Dicke der Wolken hängt auf den Bergkuppen, die darunter zu ersticken scheinen. Ich bin [woanders] und doch vertraut. Ländliches Japan, das streckenweise mit seinen Bachläufen durch Nadel- und Mischwälder an Zugfahren durch Brandenburg erinnert. Auch das ist Fukushima. Es ist auch ein Ort, an dem ich [noch] nicht war. Und sobald ich mein Ziel erreiche, bricht die Sonne leicht [hervor]. Sie spendet Wärme durch das Wolkendickicht hindurch.“

Ich genieße es sehr, auf diese Weise zu reisen. Die übersichtliche Anzahl an Menschen um mich herum ist so natürlich und ungezwungen – so ganz anders als in der Hauptstadt-Metropole. Plötzlich empfinde ich es nicht mehr belastend, als Reisende erkannt zu werden. Natürlich werde ich durchaus beäugt – was will denn eine Ausländerin hier fernab der klassischen Sightseeing-Spots? Und dann auch noch außerhalb der Saison! Nur ein paar japanische Touristen, die mir durchaus typisch für die kleine Stadt Aizu-Wakamatsu erscheinen, führt es gerade hierher. Man kann sie an einer Hand abzählen. Dazu komme dann ich als Sonderling, aber im positiven Sinne. Denn man nimmt mich als Individuum wahr und ich werde als solches beurteilt. Nicht als eine von vielen, die sich, wie ich immer wieder leidlich feststellen muss, in ihrem Unwissen und fehlenden Einfühlungsvermögen daneben benommen und somit das Verhalten der Ortsansässigen ‚uns‘ gegenüber verändert haben.

Dennoch ist es ungemein praktisch, dass man auf Touristen vorbereitet ist. Also auf einheimische jedenfalls. In der winzigen Touristeninfo frage ich nach dem Weg für meinen am nächsten Tag geplanten Ausflug. Keiner spricht hier Englisch. „Nur ein bisschen“, heißt es, was im Grunde bedeutet: „Entschuldung, aber nein.“ So bin ich gezwungen, Japanisch zu sprechen. Das ist großartig! Ich muss aus mir selbst rauskommen und so löst sich noch mehr in mir. Die auskunftsfreudigen Damen sind dazu noch so unglaublich nett und sympathisch. Wie fast alle Leute, denen ich hier begegnen werde. Wohl bemerkt nicht nur unter denjenigen, die auch dafür bezahlt werden, freundlich zu sein. Schwer bepackt mit lauter Karten und Zeitplänen und Broschüren verlasse ich das Büro – und bin gleichzeitig von ganz viel Last befreit. Ich habe mich losgerissen und werde durch die Umstände dazu ermutigt, noch mehr loszulassen. Nun kann es richtig los gehen!

Versorgt mit Wasser und einem kleinen Imbiss aus dem Kombini, einem 24/7 geöffneten Mini-Supermarkt am Bahnhofsvorplatz, orientiere ich mich. Dankbar für das mobile Internet muss ich nur kurz verstehen, wo ich bin und wo ich letztendlich hinmöchte. Aber ansonsten gibt es keinen Routenplan außer querfeldein durch die Straßen und Sträßchen, immer der Nase nach, stöbernd durch die mir unbekannte Stadt um Eindrücke aufzusaugen. Selbstverständlich laufe ich die ganze Strecke, auch wenn es kein anderer tut. Ich merkwürdiges Kind.

Ab nun klebt die Kamera an meiner Hand. Zusammen mit der Intuition, die für mich interessanten Winkel zu entdecken, ist ‚meine Liebste‘ der einzige Wegweiser meiner urbanen Wanderung. Sie und ich sind eine Partnerschaft eingegangen, in der sie so viel mehr als bloß ein Werkzeug geworden ist, sondern eine wahrhaft gute Gefährtin. Obwohl ich meine vorigen Kameras schon sehr gemocht habe, die Canon EOS 6D hat meine große Leidenschaft für Fotografie erst richtig angefeuert, weil sie als Vollformat viel mehr möglich macht. Kombiniert mit Handschlaufe und leichter 50mm-Festbrennweite habe ich dazu die perfekte Travel-Kombo gefunden, mit der man leichtfüßig unterwegs sein kann, ohne dass die Kamera irgendwann zu schwer oder unhandlich wird.

Die prickelnde Reiselust multipliziert sich mit dem Kribbeln der Foto-Passion. Beides macht mich auf seine eigene Weise schon so frei, aber begleitet von dieser Synergie begebe ich mich besonders beschwingt auf Entdeckertour. Gleich in die kleinen Gassen hinein, dann mache ich Schlenker und Umwege, die genau dort hinführen, wonach ich suche: Orte, die beginnen, Geschichte zu erzählen, sobald man sie genauer betrachtet. Zunächst stoße ich auf ein geschlossenes Restaurant, das nach guter, japanischer Küche aussieht. Obwohl es einen gepflegten Eindruck vermittelt, hat es auch etwas Vereinsamtes, das ich so am Anfang meiner Wanderung noch nicht zuordnen kann. Ein Stückchen weiter dann werde ich von einer Friedhofsanlage angezogen. Die wunderschönen buddhistischen Gräber vermitteln Ruhe und machen in Verbindung mit ein paar Bäumen voller überladener Kirschblüten den Kreislauf des Lebens buchstäblich greifbar. Sie sehen kaum anders aus als an anderen Orten des Landes. Aber gerade mit dem fokussierten Blick, den man als Fotograf auf Reisen annimmt, dringen Einzelheiten und Feinheiten hervor, die mir einzigartig erscheinen – jedenfalls für den Moment, in dem ich hier schreite. Da ist dieses hypnotisierende gelbe Absperrband, das auf Brüchigkeit einer Grabanlage hinweist und mir wie ein Schmuckstück erscheint. Dann sehe ich kurz darauf eingestürzte und zersplitterte Steine einer Grabeinfassung. Könnten sie vom großen Beben stammen, das man, so denke ich mir, auch hier in den Bergen gespürt hat? Oder war es einfach nur der ganz natürliche Zahn der Zeit?

Ich frage mich, ob man den Fotos, die hier entstehen, auch ein wenig von dem ansehen wird, was in mir vorgeht? So vieles passiert gerade in mir, während ich laufe. Haufenweise und teilweise schwere Gedanken habe ich schon mitgeschleppt. Dazu stürmen gerade vielfältige Eindrücke gleichzeitig auf mich ein. Für mich selbst banne ich Gedanken in diese Bilder, aber andere werden vielleicht nur eine Spur dessen darin lesen können, was mich dazu veranlasst hat, genau diese Fotos zu schießen. Oder sie werden die Bilder auch einfach nur als völlig belanglos empfinden. Genau darin liegt ja auch der Reiz an der Art von Fotografie – oder Kunst allgemein –, die ohne vorkonstruierten Zweck entsteht. Sobald wir etwas von dem, was wir erschaffen haben, zeigen, nimmt es in den Augen der Betrachtenden neue Bedeutung an, weckt individuelle Gefühle und spinnt andere Geschichten. Hoffentlich also werden diejenigen, die meine Fotos zu sehen bekommen, dann in Gedanken zu ihrer eigenen Reise animiert. Aber an diesen Zauber denke ich noch gar nicht, weil ich so sehr damit beschäftigt bin, was der Ort gerade jetzt so alles mit mir persönlich anstellt.

 

Trotz meiner individuellen Route bin ich aber dennoch auch ein wenig ‚Touri‘ und besuche die Burg Aizu-Wakamatsu. Prompt gerate ich dabei auch in die Rolle des Quotenausländers und werde von einem Lehrer angesprochen, der mich bittet, mit seinen Schülerinnen ein bisschen Englisch zu reden. Sie alle finden merkwürdig, dass es mich gerade hierher führt, an einen vergleichsweise so abgelegenen Ort. Ich versuche, halb auf Englisch, halb auf Japanisch, zu erklären, dass ich genau deswegen hier bin. Ob sie das nachvollziehen können? Mir scheint es ganz so, als ob die schüchternen Mädchen nur halb so viel Interesse daran haben, sich hier aufzuhalten, wie ich. Dass wir uns an einem der Sightseeing-Spots der Stadt begegnen, ist dabei natürlich kein Zufall.

An der Samurai-Residenz Aizu Bukeyashiki, die ich mir in meiner kurzen Recherche im Internet ursprünglich auch herausgepickt hatte, werde ich später auch noch vorbei kommen, aber nicht mehr die Zeit finden, sie zu besichtigen. So bleibt etwas ungesehen, das ich anschauen könnte, falls es mich noch einmal herführt. Aber jetzt bin ich erst mal auf der Burganlage, die trotz Ähnlichkeiten zu anderen japanischen Festungsbauten auch etwas Eigenes hat. Das ungewöhnlich lang gestreckte Hauptgebäude und der weitläufige Innenhof wirken wie die Kulisse für einen Film, in dem mutige Kämpfe ausgefochten werden. Ich mache nur ein paar wenige Fotos von den imposanten Mauern, aber ob ich sie überhaupt entwickeln werde, weiß ich noch nicht. Ihr wisst schon, diese Postkartenmotive können auch andere zeigen. Stattdessen besuche ich das Museum – in dem Fotografieren überwiegend verboten ist – und lasse mich dann ein wenig auf der Verteidigungsmauer nieder. Die Sonne genießend, die mit ihren Strahlen das Wasser um die Festung zu einem unüberwindbaren Graben von gleißendem Licht verwandelt, dass jedes Foto ausfrisst, egal wie sehr ich mich mit der Belichtungszeit runter gehe, versuche ich Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen und eine wichtige E-Mail zu verschicken. Es gelingt mir nicht. Eindeutig bin ich abgeschnitten vom Rest der Welt, um mich auf anderes zu konzentrieren. Die Geschäftigkeit muss also warten, bis ich zurück in Tokyo bin.

Dort auch werde ich erst erfahren, auf welch wichtigen historischen Pfaden ich eigentlich wandele. Meine japanischen Freunde werden mich mit großen Augen anschauen, wenn ich ihnen dann von meinem Ausflugsziel erzähle. Dass sie selbst noch nicht dort gewesen seien, werden sie sagen. Und mir davon erzählen, dass Aizu eine der letzten Bastionen war, in der sich die Feudalkräfte in der Meiji-Zeit vor der Umwälzung des Landes zur Wehr gesetzt hatten. Und dass so viele nach der Niederlage Seppuku begangen hätten. Ganz besonders tragisch sei dabei der Tod der 19 jungen Männer des Byakkotai, Weißer-Tiger-Krops, gewesen. „Welch Verschwendung jungen Lebens“, sagt einer ganz so, als ob die Geschehnisse gerade erst passiert werden. Es ist ungemein spannend, sich mit Japanern über ihr Land zu unterhalten und so werde ich mich später glücklich schätzen, einen Eindruck von einem berichtenswerten Ort der japanischen Geschichte erhalten zu haben. Während ich dort bin allerdings, beschäftigt mich vor allem das, was Aizu-Wakamatsu heute ist.

Während ich meinen Streifzug weiter fortsetze, verfestigt sich mein Eindruck von Vereinsamung immer mehr. Kaum ein Mensch ist unterwegs, aber es liegt nicht nur daran, dass es ein Werktag ist. Selbst die für gewöhnlich lebendigen Schulen und Kindergärten sind von einer merklichen Leere befallen. Die jungen Menschen, erzählt mir derjenige, durch den ich hergefunden habe, verlassen alle die Stadt, um in den großen Städten Arbeit zu finden. Aizu-Wakamatsu scheint zu groß für zu wenig Menschen geworden zu sein. Mir kommt es so vor, als würde sie nur darauf warten, wieder mit neuem Leben gefüllt zu werden. Noch nie ist mir so sehr bewusst geworden, dass Städte eine Art von Seele besitzen, und diese Erkenntnis erdrückt mich jetzt fast. Ich fotografiere einige der verlassenen Läden mit ihren von Zeit zerfressenen Gardinen und Markisen. Es sind Anblicke, die ich in ihrer gewissen Morbidität eigentlich sehr gerne mag, aber hier betrübt mich jeder davon ein bisschen mehr, weil es irgendwie so wenig gibt, das sich dem Verfall im lebendigen Kontrast zur Wehr setzen kann. Es verschlägt mir fast die Sprache – im gestalterischen Sinne – und so fällt es mir immer schwerer, den Abzug zu drücken. Kritisch suche ich nach Zeichen dafür, dass ich nicht nur durch Straßen wandere, die mit ihren unbewohnten Wohnungen und zurückgezogenen Menschen zu sterben begonnen haben. Nachdem ich über ein weiteres Friedhofsgelände mit einer wunderschönen, aber den Aspekt des ‚Alten‘ nur unterstreichenden Statue durchquert habe, entdecke ich endlich einen Lichtblick. In all dem Vergehenden hier entsteht auch Neues: Auf einem Grundstück zwischen Einfamilienhäusern wird gerade ein weiteres gebaut, dessen moderne Betongrundmauern ganz frisch aus dem Boden sprießen.

Doch auch der letzte Zielort meines heutigen langen Spaziergangs, der Onsen-Bezirk der Stadt mit wunderbaren Thermalquellen, hat seine glorreichen Zeiten bereits hinter sich. Skeptisch steige ich die teilweise ganz schön steile Straße zu meiner Unterkunft hinauf und passiere auch ramschige, heruntergekommene Ecken. Ganz unüblich erreiche ich meine Unterkunft zu Fuß und werde, verschwitzt und kaputt wie ich bin, von einem Empfangsmann hinein geführt. Meine Zweifel, ob ich, als ich vor nicht einmal 24 Stunden ein Zimmer hier gebucht habe, wohl die richtige Entscheidung fällte, erweisen sich als völlig unbegründet. Der Ryokan, eine traditionell-japanische Herberge, entpuppt sich als wahre Oase, die den Tag voll spannender Auseinandersetzung durch Gelassenheit abrunden wird.

Bevor mich eine geschwätzige Dame im Kimono hinauf in mein Gemach führt, wird mir ein Tee gereicht und ich habe die Gelegenheit, meine müden Glieder schon mal ein wenig im Empfangsbereich auszustrecken. Es folgt immer mehr Entspannung – auf ganz typisch japanische Art. Tief atme ich durch als ich, nachdem ich meine Sachen abgelegt und mich etwas frisch gemacht habe, am offenen Fenster stehe und auf dunkle, kräftige Bäume blicke, die an alte Legenden erinnern. Das Abendessen im Kaiseki-Stil mit reichlich Köstlichkeiten, das uns Gästen im großen, atmosphärischen Speisesaal gereicht wird, ist eine kulinarische Reise für sich. Mit den leisen Gesprächen der anderen als Soundtrack genieße ich die vielen lokalen Kleinigkeiten, von denen eine leckerer als die andere ist, während mein Blick durch den erhabenen Raum wandert und gelegentlich durch die etwas entfernte Fensterfront späht, hinter der sich dunkel bewaldete Bergketten erahnen lassen.

Wahrhaftige Ruhe bietet dann das japanische Bad, das mit dem Wasser der hiesigen Quellen gespeist wird. Die Mineralien darin sollen gut für die Haut sein, habe ich gelesen, vor allem aber lösen Hitze und Feuchtigkeit die Anspannung aus meinen strapazierten Muskeln. Am meisten beruhigt es mich, als ich alleine in dem unter freiem Himmel gelegenen Außenbecken sitze und die Aussicht genießen kann, die mich mit dieser Stadt und ihrer merkwürdigen Atmosphäre mehr als versöhnt. Über den Hängen schwebt der Mond und wenn man ins Tal hinab blickt, funkelt die Stadt mit ihren Lichtern und sieht nun gar nicht mehr so trostlos aus. Vielleicht, stelle ich mir vor, ist Aizu-Wakamatsu eine Geisterstadt, die erst zum Leben erwacht, wenn man sich nach Anbruch der Nacht auf ihren Zauber einlässt und hinter die verwitternde Erscheinung blickt. Tiefenentspannt, zufrieden und ganz bei mir liege ich später in Yukata, einem leichten Baumwollkimono, auf meinem Futon und plane mit einem Lächeln in den Mundwinkeln die Einzelheiten des kommenden Tages, bevor ich schwer wie ein Stein schneller einschlafe als ich „Hach, wie wunderbar!“ sagen kann.

Verwöhnt mit einem reichhaltigen japanischen Frühstück mache ich mich erneut ungewohnt früh und voller Tatendrang auf den Weg. Diesmal nehme ich den Bus zurück zum Bahnhof und entdecke auf diese Weise ein paar neue Ecken der Stadt, die mir so frohgemut schon viel freundlicher vorkommt. Auch die Menschen, die mein Lächeln durch die Scheiben mit teilweise umwerfend herrlicher Leichtigkeit erwidern, haben ihren Anteil daran. Bevor ich Aizu-Wakamatsu verlasse, kehre ich noch einmal in der Touristeninformation ein und werde erneut mit so vielen Plänen und Karten überhäuft, dass ich mir sicher bin, mit dem ganzen Infomaterial nun ein ganzes Zimmer tapezieren zu können. Dabei brauche ich eigentlich nur eine Busverbindung, um noch einen Schlenker in meine heutige Tour einzubauen.

„Das ist einfach“, sagt mir eine der überfürsorglichen Damen, die sich nicht aufhalten lässt, mir noch einmal alles ganz genau zu erklären. „Nimm diese Bahn. Dann diesen Bus. Hier ist ein Zeitplan. Und diese Karte. Diese hier ist noch besser. Und das ist die gleiche in Englisch. Schau dir diese Broschüre an, ist es nicht schön dort? Warst du nicht gestern auch schon hier? Warte einen Moment!“ Sie kommt zurück, schenkt mir eine Handvoll Bonbons und verweist auf ein schwarzes darunter, das irgendwie besonders ist, aber ich verstehe die Erklärung dazu nicht. Ihre Kollegin signalisiert mir mit schmunzelnder, verzogener Mine, dass ich vorsichtig sein solle. Nach noch ein bisschen Geplänkel schaffe ich es irgendwann, mich von dem helfenden Kollektiv loszureißen, setze mich in die Bahn und steige zuletzt wie geheißen in einen Bus um. Wieder kann ich meine Freude nicht verbergen, unterwegs zu sein, was dazu führt, dass ich umgehend mit diversen Leuten ins Gespräch komme. Japanische Wanderer sprechen mich genauso an wie ein chinesischer Alleinreisender, den ich an meinem Erkundigungen über Verbindungen und Busfahrsysteme in Japan teilhaben lasse, um ihn dann geradezu abwimmeln zu müssen, weil ich ja mit meiner Kamera und meinen Gedanken ungestört sein möchte.

 Warm ist es und bestes Reise- und T-Shirt-Wetter – und doch liegt hier, gegen Ende April, noch Schnee. Aufgehäuft an halbwegs schattigen Flecken und dreckig-feucht abtauend, aber es ist Schnee. Auf diese Weise liebsam verwundert beginne ich die Route entlang der Goshiki-numa, einer Ansammlung vulkanischer Seen und Tümpel in sagenhaften Farben, denen sie den Namen ‚Fünffarbenmoore‘ verdanken. Obwohl ich während meines Japanaufenthaltes ansonsten ausschließlich in schwarz/weiß fotografiere, muss ich hier einfach in den Farbmodus zurückschalten und komme aus dem Staunen und Einfangen der gesehenen Schönheit gar nicht mehr heraus. Junge Malerei-Studentinnen erobern sich diese Landschaft in Öl und geben zusammen mit ihren spiegelnden Leinwänden selbst ein hervorragendes Motiv ab.

Die Kamera fest im Anschlag steige ich zunächst einen Hang hinauf, um dort durch knöchrige Bäume eine Szenerie zu erblicken, die ich so noch nicht gesehen habe. Vor immergrünen Nadelbäumen hebt sich trockenes Gestrüpp und Geäst ab, das irgendwie die Vulkane hier erahnen lässt, aus deren reichhaltiger Kraft all das hier geschöpft wird. Danach wate ich über morastigen Boden ein bisschen näher an den ersten, größten und tief-türkisfarbenen See heran und habe das Gefühl, ich werde von der Natur vereinnahmt. Sie wispert mir unaufdringliche Zaubersprüche ins Ohr mit ihren plätschernden Bachläufen, raschelnden Blättern und leisem Gesumm. Aber nichts kommt den überwältigenden Anblicken gleich, wenn hinter einer Wegbiegung das nächste bunte Nass auftaucht und einen staunen lässt, welche Farben die mineralhaltigen Gewässer noch hervorbringen können.

Vielbelaufen sind die durch den Wald führenden kleinen Wanderwege und größeren Pfade, und trotzdem verliere ich mich im Aufsaugen der Eindrücke. Ich werde in meinen Kamerasucher hineingezogen, durch den diese Welt hier oft noch mal ein bisschen anders aussieht. Im kleinen Ausschnitt wird ein rostroter Teich plötzlich wie eine Marslandschaft, in der kleine Tannen sprießen. Knochen toter Bäume ragen aus dem Wasser heraus als würden sie in leere Luft greifen, um etwas zu finden, an dem sie sich festhalten können. Toten-trockenes Schilfstroh hebt sich in seiner gelblichen Mattheit wie emporragende Nadeln vom blaugrünlichen letzten der farbigen Seen ab, in dem sich der klare Himmel mit seinen Wolken spiegelt. Der Landstrich hat wahrhaftig etwas Poetisches an sich, das man im Grunde gar nicht vollkommen abbilden kann, sondern selbst gesehen, oder besser noch, erlebt haben muss.

Am Ende des Weges lege ich eine Pause ein und stärke mich. Gesättigt mit einer Schüssel Nudelsuppe, die bei Weitem nicht an die Feinkost meiner Bleibe in der vergangenen Nacht heranreicht, kaufe ich ein paar Spezialitäten als Mitbringsel ein. Dann aber wird meine Reise zum einzigen Mal etwas kompliziert. Die Busse fahren nicht mehr so regelmäßig und ich muss eine Alternative finden, wenn ich meinen letzten ‚Tourist-Point‘ noch erreichen möchte. Mit einem ganz schönen Hin und Her können mir die Verkäuferinnen – anhand einer weiteren Karte und einem Infoblatt – erklären, wo ich, wenn ich denn unbedingt jetzt schon weiter möchte, einen passenden Anschluss bekommen kann. Aber ich müsse mich sehr beeilen, sagen sie, und glauben offensichtlich nicht ganz daran, dass ich das schaffen kann.

Auf mein schnelles Tempo vertrauend laufe ich los und erreiche die Haltestelle gerade so mit wenigen Minuten Vorsprung zum Bus, der aber nicht wie erhofft eintrifft. Zu allem Überfluss bin ich in meiner Eile auch noch kräftig umgeknickt, und mit diesen Unannehmlichkeiten konfrontiert, gebe ich schlussendlich nach einem weiteren Spaziergang der Vernunft nach. Auf den geplanten Ausklang meiner Wanderung mit Anblick auf einen großen See bei Abenddämmerung verzichtend, steige ich in einen Bus und begebe mich somit auf meinen Rückweg nach Tokyo.

Ein bisschen verstimmt bin ich zunächst, aber so habe ich nur allen Grund, noch einmal hierher zurückzukehren. Diesmal dann vielleicht mit anderen und von öffentlichen Verkehrsmitteln ungebunden. Überhaupt, wenn es hier schon so schön ist, welche anderen ungeahnt bezaubernden Landstriche gibt es in Touhoku noch zu entdecken? Während wir den Berg hinab kurven, beginne ich also schon neue, mögliche Pläne zu schmieden und schon ist die Ernüchterung vergangen. „Mutig“ werde ich später dafür genannt werden, dass ich einfach mal so mir nichts dir nichts ins Unbekannte aufgebrochen bin. „Das ist nicht mutig“, wird meine Antwort darauf lauten. Ich bin früher eigentlich viel auf diese Weise gereist, erinnere ich mich, als ich verträumt aus dem Fenster schaue und Etappe um Etappe zurück ins Tal gebracht werde.

In Gedanken reise ich noch einmal zurück in der Zeit und dann blättern plötzlich alle imaginären Schuppen von meinen Augen als ich die schönste Erkenntnis dieser beiden erkenntnisreichen Tage habe. Genauso wie die magnetische Anziehungskraft der monochromen Fotografie habe ich diese Art des Reisens von meiner Mutter, deren sechstem Todestag ich nur eine Woche später begegnen werde – übrigens ebenfalls mit Kamera und einem Ausflug. Erst als ich diesen schönen Ort verlasse, verstehe ich, wie sehr ich hier mit ihr verschmolzen bin, wie sehr ich mit ihr unterwegs war und damit alles andere als allein. Dieses Gefühl macht mich nicht im Mindesten traurig, sondern erfüllt mich und ist einer der Gründe, warum ich euch von all den Dingen, die ich hätte erzählen können, gerade von diesem Ausflug berichte. Denn so richtiges Reisen, das führt dich nicht nur irgendwohin, es führt immer auch in dich selbst! Eine Kamera erlaubt dir dabei nicht nur, etwas festzuhalten, sondern vielmehr, überhaupt erst klarer zu sehen und den Blick für das Wesentliche zu schärfen, das sowohl um dich als auch in dir zu finden ist.

Ich habe noch immer das Ticket meiner Platzreservierung, mit der ich diesen Ausflug angetreten bin, in der Schutzhülle meines Handys, um mich, egal wo ich bin, daran zu erinnern, wie wichtig das Reisen für mich ist und welch bedeutsame Rolle auch das Fotografieren dabei einnimmt. Die zunächst unbewusst getroffene und dann ganz bewusst umgesetzte Entscheidung, mich mit schwarz/weiß und einer einzigen Festbrennweite nahezu während meines gesamten Japanaufenthaltes zu limitieren, war für mich gleichsam das Folgen einer Tradition als auch inspirierende Herausforderung, die mich anders als erwartet vor keinerlei Komplikationen gestellt, sondern nur bereichert hat. Fotografie ist nicht nur ein Wegbegleiter, sie ist selbst eine Reise, die einen als Erinnerung in die Vergangenheit führt, aber auch in die Zukunft zieht mit den Verheißungen dessen, was man mit ihr noch alles erleben kann.

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Text und Bilder: Wanda Proft

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